Das Digital Documentation and Coordination Center (DiDoC2) bildet das zentrale Nervensystem, die Steuerzentrale der neuen Kindernotaufnahme. Hier ist Interdisziplinarität Standard, innovative Konzepte wie Remote Scanning und der Einsatz neuer Berufsgruppen wie Physician Assistants werden etabliert. Herr Prof. Dr. med. Michael Boettcher (B), Klinikdirektor der Kinderchirurgie der UMM, und Frau Prof. Dr. med. Meike Weis (W), Leiterin des Zentrums für Kinderradiologie und pädiatrische Notfalldiagnostik (ZKPN), sprechen mit Herrn Prof. Dr. med. Stefan Schönberg (S), Klinikdirektor der Radiologie und Nuklearmedizin der UMM, über die zukunftsorientierte Umstrukturierung der Kindernotaufnahme (NOKI).
S: Frau Weis, wie entstand die Idee, ein Zentrum zu entwickeln, bei dem die Kinderradiologie und die Kinderchirurgie so eng zusammenarbeiten und Abläufe dadurch neu gedacht werden?
W: Wir haben den Bedarf für eine Umstrukturierung gesehen und wollten uns durch eine breitere Aufstellung den neuen Begebenheiten anpassen. Der Prozess der Notfalldiagnostik ist per se ein sehr interdisziplinäres Feld, für das wir synergistisch die Effekte der Digitalisierung nutzen können. Daher war unser Weg die Ausgründung des Zentrums als eigene Organisationseinheit mit interdisziplinärer Kooperation mit unseren klinischen Partnern, vor allem der Kinderchirurgie, mit der wir auch für das KHZG (Krankenhauszukunftsgesetz) eng zusammenarbeiten. Wir haben uns stärker vernetzt, um uns für die Zukunft besser aufstellen zu können.
S: Herr Boettcher, was sind aus Ihrer Sicht als Klinikdirektor die klassischen pain points in den Abläufen von Diagnostik und Therapie, auch außerhalb der Radiologie? Was galt es zu adressieren in der Kindernotaufnahme?
B: Ein Problem, solange man nicht interdisziplinär zusammenarbeitet, ist die Fokussierung auf den eigenen Bereich. Das konzipierte DiDoC2 ermöglicht die Zusammenarbeit von Kinderchirurgie, Pädiatrie und Kinderradiologe ohne Zeitverzug, durch das interdisziplinäre Setting können wir umfassender und ganzheitlicher denken. Es wird durch die räumliche Nähe und die gemeinsame Bearbeitung der Fälle weniger Informationsverlust oder unvollständige Informationsübermittlung geben.
S: Sie haben komplett neu gedacht. Das hat dazu geführt, dass Räumlichkeiten neu orientiert, Gelder freigesetzt werden mussten. Natürlich war das KHZG als Anschubfinanzierung hilfreich, aber letztendlich musste die Folgefinanzierung auch sichergestellt werden. Hatten Sie dort Widerstände oder konnte man alle dafür gewinnen?
B: Soweit ich es wahrgenommen habe, gab es überhaupt keine Widerstände. Alle haben das Problem der unterdimensionierten und fragmentierten Kindernotaufnahme gesehen. Das Zusammenfassen zu einer interdisziplinären Einheit war so überzeugend, dass es keine Widerstände gab und das auch vollumfänglich gerade von der Geschäftsführung unterstützt wurde.
W: Durch die gemeinsame Zielverfolgung wurden alle Einschränkungen, die wir in der Bauphase erlebt haben, ohne Probleme in Kauf genommen. Wir ziehen alle an einen Strang, das macht uns als interdisziplinäres Team aus. Der Rückhalt und die Unterstützung seitens der Geschäftsführung hilft uns, voranzukommen.
S: Im DiDoC2 laufen alle Prozesse interprofessionell zusammen. Sie konnten das umsetzen, was wenige bisher geschafft haben – der Einsatz künstlicher Intelligenz bei der Erkennung von Frakturen im Röntgenbild führt zu einer besseren Triagierung. Hat sich das in der Praxis insofern bewährt, dass der Fall, der wirklich die akute interdisziplinäre Aufmerksamkeit erfordert, zeitnah angeschaut wird?
W: Insbesondere das Übersehen und die Recall-Raten sind deutlich zurückgegangen, sowohl von radiologischer als auch von kinderchirurgischer Seite.
B: Wir sehen den Benefit täglich in der Frühbesprechung. Frakturen werden nicht mehr übersehen, der negativ prädiktive Wert ist extrem gut.
B: Wir sehen den Benefit täglich in der Frühbesprechung. Frakturen werden nicht mehr übersehen, der negativ prädiktive Wert ist extrem gut.
Syngo Carbon ist eine innovative Softwareplattform, die speziell für die radiologische Bildgebung entwickelt wurde. Sie bietet eine integrierte Lösung zur Optimierung von Arbeitsabläufen in der Radiologie, indem sie KI-gestützte Tools und Anwendungen bereitstellt. |
W: Die Implementierung des neuen Systems Syngo Carbon wird zu einer weiteren Verbesserung der Triagierung über die Röntgenliste führen, direkt basierend auf dem Ergebnis der KI-Auswertung. Hierdurch wird die Zeit von der Diagnose zur Therapie, beispielsweise durch das Abarbeiten von unauffälligen Befunden, über Physician Assistants verkürzt werden.
S: Wir sind wahrscheinlich eine der ersten pädiatrischen Notaufnahmen mit eigenem CT und dazu noch einem der modernsten CTs der Welt. Wenn im Röntgen die Diagnose früher gestellt wird, sie interdisziplinär besprochen wird und dann das CT erfolgt, das hilft auch dem Therapieentscheidungsprozess. Gibt es typische Krankheitsbilder, bei denen der Patient davon profitiert, dass wir jetzt schneller sind und ein CT ergänzen können? Hilft mir das bei der OP oder ist es noch zu früh?
B: Wir sehen bereits jetzt den Benefit. Wir sind Fehlbildungszentrum, sodass wir sehr viele komplexe Fälle haben, die mit „normaler Diagnostik“, also Ultraschall und Röntgendiagnostik, oft gar nicht so eindeutig zu klären sind. Wäre die Diagnostik nicht so leicht verfügbar, müsste man häufiger die Entscheidung treffen, direkt zu operieren. Wir wissen dank der weiterführenden Diagnostik viel besser, wie wir die Operation planen müssen, welche Operationstechnik wir anwenden können oder welche Patienten keine Operation benötigen. Die Sicherheit und diese schnelle Verfügbarkeit in einem eingespielten Team und in dieser Gesamtkonstellation sind sehr hilfreich.
S: Herr Boettcher, Ihre Reputation und Sichtbarkeit hat dazu geführt, dass Sie sehr viele externe Häuser mit in die Partnerschaft eingebunden haben. Aus dem DiDoC2 können wir jetzt Remote Scanning anbieten, also aus dem DiCoC2 Untersuchungen steuern. Wo sehen Sie Krankheitsbilder, die wir durch die elektive Diagnostik vor Ort in der Peripherie hier noch stärker anziehen können?
B: Wir haben sehr viele Kooperationskliniken, die wir durch die neue Ausstattung telemedizinisch besser beraten können. Die sehr seltenen angeborenen Fehlbildungen sind über ganz Deutschland verteilt. Nicht immer ist es für diese Patienten möglich, zu uns zu kommen, manchmal müssen sie wohnortnah untersucht werden und dafür ist Remote Scanning die perfekte Anwendung. Das wird zum einen dazu führen, dass nicht alle Patienten unmittelbar zu uns fahren müssen. Zum anderen können wir über diesen Service unsere Reputation weiter ausbauen und komplexe Fälle attrahieren.
S: Komplexe Fälle sind das perfekte Stichwort. Ein ganz besonderer Fall ist die pädiatrische akute Sepsis, hier wird gerade ein Entscheidungsunterstützungsserver aufgebaut, der uns durch die Kombination aus verschiedenen Parametern eine schnellere Notfallversorgung ermöglicht. Was ist das Ziel und was genau verbirgt sich dahinter?
W: Das Child Security System dient in erster Linie der Patientensicherheit. Wenn ein Kind instabil wird oder Sepsiskriterien erfüllt, die Atmung schneller wird oder wir im Labor auffällige Parameter haben, wird dem behandelten Arzt in der Notaufnahme direkt im Triagierungssystem ein Alert angezeigt. Daran erkennt er, dass das Kind sich akut verschlechtert und sofortige Aufmerksamkeit benötigt. Das gilt zum einen für die Sepsis selbst, ist aber auch denkbar für andere Erkrankungsbilder; für die häufigsten Diagnosen werden wir in der NOKI Regeln hinterlegen. Im einfachsten Fall sind es die gängigen Leitlinien, die angezeigt werden oder auf Abweichungen hinweisen, bis hin zu komplexen Lösungen wie Sepsiserkennung oder darüber hinaus. Beispielsweise können anhand von Laborparametern seltene Erkrankungen wie bestimmte Anämieformen angezeigt werden, die aufgrund der Seltenheit nicht primär als Differenzialdiagnose in Betracht gezogen würden.
S: Im DiDoC2 sind wohl mehrere hundert Kilometer Kabel verlegt. Wie war die Zusammenarbeit mit der informationstechnischen Abteilung, was hat vielleicht besonders geholfen in der Partnerschaft?
W: Die im KHZG verankerte paritätische Besetzung und die damit verbundene Teamarbeit ist eine wichtige Gegebenheit. Es gibt eine Projektleitung klinischerseits, die ich übernommen habe. Frau Ak ist Projektleitung auf Seite der MaLuIT, das heißt wir sind ein Team aus IT und Klinik. Das hilft natürlich im Vorankommen, in der Zusammenarbeit können die Prozesse beschleunigt werden. Gerade im Moment wird zum Beispiel ein Monitor aufgehängt, um die Zentralüberwachung, die demnächst aufgebaut wird, dort direkt anzeigen zu lassen.
S: Neben dem modernsten CT soll auch noch ein völlig innovatives MRT kommen, mit besonders weiter Öffnung und guter Zugänglichkeit. Was erhoffen Sie sich zusätzlich noch gegenüber dem CT?
W: Wir möchten die Zugänglichkeit zum MRT dadurch erhöhen, insbesondere in der Notfalldiagnostik. Beispielsweise bei Commotio, also bei Schädelhirntraumata, oder auch bei Bauchschmerzen mit der Frage Blinddarmentzündung. Selbst nach dem Ultraschall ist die Diagnose manchmal noch unklar, häufig wird der Patient dann aufgenommen und über Nacht gemonitort. Das können wir uns sparen, indem wir ein schnelles MRT machen. Aus dem DiDoC2 heraus können wir direkt scannen und unter Umständen die Lagerung durch die begleitende, entsprechend geschulte Pflege durchführen lassen. Damit schaffen wir Klarheit innerhalb von zehn Minuten.
S: Jetzt haben wir Halbzeit in diesem Jahrzehnt, wir schauen auf die letzten fünf Jahre zurück. Was bringen die nächsten fünf Jahre?
B: Ich denke, dass die KI die Notfalldiagnostik komplett durchdringen wird. Wir werden mehr „echte“ KI haben, weniger Entscheidungsunterstützung, das wird sicherlich einige Anteile der Arbeit verändern. Wir werden vermutlich zunehmend Physician Assistants zum Beispiel in der Notaufnahme einsetzen, die die weniger komplexen Fälle bearbeiten. Das ärztliche Personal kann sich auf die hochkomplexen, kritisch kranken oder unklaren Fälle konzentrieren.
W: Im Moment haben wir viele Insellösungen, isoliert die Frakturerkennung oder die Entscheidungsunterstützung, zukünftig sollen alle Systeme ineinandergreifen und ein rundes Bild ergeben. Wir sind im DiDoC2 dann die Datenmanager und die Prozesssteuerer, quasi die Verwalter der weiterführenden Schritte. Wir setzen unsere Intelligenz dafür ein, den richtigen Weg für das Richtige zu wählen.